Das cranio-orofaziale System und trotzdem darf gelacht werden …

Wenn beim Wort cranio-orofazial kein Stolpern im Sprechen ist, darf man sich als fortgeschrittener Sprecher fühlen. Ich werde in Zukunft immer ein Lachen im Gesicht haben, denn mir wurde dieser so trockene Stoff mit so viel Humor nochmal beigebracht, dass ich ihn bestimmt nie wieder vergessen werde.

Mit Schrecken denken alle, die die 12 Hirnnerven wie z.B. Glossopharyngeus einmal lernen mussten an viele Fachausdrücke in Latein oder Griechisch und an Muskeln mit noch komplizierteren Namen wie z.B. stylohyoideus … dennoch müssen wir Logopäden wie Ärzte das alles wissen. Es wird viel geforscht, endlich, und auf diesem Gebiet tut sich viel.  

Auf Empfehlung von Ingrid Diepolder, Logopädin und Padovan-Therapeutin in Bad Grönenbach kommt Prof. Nelson Annunciato aus Brasilien ins Allgäu und referiert über das orofaziale System. Herr Prof. Annunciatio ist in Fachkreisen sehr, sehr bekannt und allein schon deswegen war mein Dabeisein ein Muss. Er hatte viele Jahre mit Dr. Castillo-Morales zusammengearbeitet und nach dessen Methode behandeln wir in der Praxis mit großem Erfolg Fazialis-Paresen. Das ist eine Lähmung einer Gesichtshälfte, die manchmal ohne erkennbaren Grund auftreten kann. Auch Dr. Castillo-Morales kommt wie Dr. Beatrice Padovan aus Südamerika.

Und jetzt steht Prof. Annunciaton vor uns und ich habe noch nie so viel gelacht und das bei so einem trockenen Thema. Lacht man in Brasilien mehr? Das muss wohl so sein.

Gerade in den letzten Jahren hat man viele neue Erkenntnisse über die Funktionen des Gehirns und der Hirnnerven gewonnen. Es ist der Wahnsinn, wie alles zusammenhängt und miteinander in Verbindung steht – andere Worte finde ich wirklich nicht und alles ist wahnsinnig interessant und spannend. In der Therapie werde ich oft staunend gefragt, warum ich erst an den Füßen und Händen arbeite, bevor ich etwas im Mund oder im Gesicht mache. Schließlich wird mit dem Mund gesprochen und als Logopädin arbeite ich mit dem Sprechen. Diese in vielen Störungsbildern unerlässliche ganzkörperliche Herangehensweise ist mittlerweile von der Hirnforschung erklärt worden. Schmunzelnd kann man sagen, dass viele Jahrzehnte die Schulmedizin ganzkörperliche Behandlungsansätze eher belächelt hat, deren Erfolge erst viel später von der Forschung erklärt werden konnten.

Wir Logopäden hatten einen Sonderstatus, obwohl wir klassisch medizinisch ausgebildet wurden.  

Füße, Hände und Mund sind im Kortex des Gehirns nebeneinander repräsentiert, das heißt ihre Funktionen werden nahe beieinander gesteuert und sind eng miteinander verbunden.

Beim Sprechen und Schlucken des Mundes geht es um Motorik, also dem Bewegen von Muskeln. Man kann ein längeres Wort einmal bewusst sprechen und auf die Bewegungen der Zunge, der Lippen und Wangen achten – kleine akrobatische Bewegungen sind zu spüren. Und alle Bewegungen im Mundbereich haben Korrespondenzen im ganzen Körper.

Beim genauen Hinsehen und Hinspüren wird klar und logisch, dass ein Körper, der schlaff in den Seilen hängt, keine deutlichen Sprechbewegungen machen kann. Zum genauen Sprechen gehören präzise, deutliche Bewegungen. Wenn im Körper zu wenig Spannung ist, dann hat auch die Zunge zu wenig Spannung um richtig zu schlucken und zu sprechen.

Und wenn der ganze Körper eine Fehlhaltung einnimmt, so kann auch der Unterkiefer kaum eine korrekte Haltung einnehmen. Die Zunge formt mit der Kraft ihrer Bewegungen besonders beim Schlucken den Oberkiefer und Unterkiefer und es entwickelt sich ein offener Biss oder andere Zahnfehlstellungen, wenn die Zunge beim Schlucken in die falsche Richtung drückt, nicht nach oben sondern nach vorne.

Auch ein anderer Teufelskreis kann entstehen. Vom Mittelohr geht ein Kanal in die Mundhöhle. Das ist die einzige Belüftung des Mittelohres, denn das Trommelfell schließt das Mittelohr zum Gehörgang hin ab. Ist die Zunge nicht an der richtigen Stelle und der Unterkiefer nicht in physiologischer Position so ist dieser Kanal, der in der Mundhöhle endet, nicht offen oder nicht offen genug und der Schleim oder das Sekret aus dem Mittelohr können nicht abfließen und chronische Mittelohrentzündungen können die Folge sein. Das Kind hat häufiger Infekte, hört durch Sekret im Mittelohr schlechter und die Sprachentwicklung ist langfristig durch das schlechte Hören beeinträchtigt usw.

Was mir nicht mehr so präsent war, wie sehr die Muskelaktivität auch das Knochenwachstum aktiviert. Bewegen Kinder ihre Muskeln und besonders die Muskeln im Unterkiefer zu wenig oder falsch, so wachsen die Knochen zu wenig. Der Unterkiefer ist beim Säugling zurückgelagert und die Muskelaktivität beim Saugen an der Brust bringt den Unterkiefer nach vorne und lässt ihn in die richtige Form wachsen.

Nach so viel Theorie bin ich allerdings froh, dass wir Logopäden praktsiche üben können. Das viele Wissen im Hintergrund und ein weiter Blick für die Zusammenhänge im ganzen Körper sind immer unerlässlich, damit richtige Behandlungskonzepte für Patienten gefunden werden.  

Diese Informationen müssen weitergegeben werden. Ich glaube viele Eltern sind sich über all diese Zusammenhänge nicht ausreichend bewusst. Der ganze Körper braucht Spannung, vom Fuß bis zum Mund. Schade, dass Prof. Annunciato das nicht auch für Eltern so lustig erklären kann.